III. Tätigkeitsbericht des Landesbeauftragten für die Informationsfreiheit Sachsen-Anhalt
vom 1. Oktober 2012 bis 30. September 2014
9.6 Nichtanwendungserlasse der Finanzverwaltung
Die Rechtmäßigkeit der im Bereich der Finanzverwaltung nicht unüblichen Nichtanwendungserlasse ist nicht unumstritten. In diesen wird nämlich die Finanzverwaltung vom Bundes- oder dem jeweiligen Landesfinanzministerium angewiesen, die Grundsätze eines Urteils des Bundesfinanzhofes (BFH) nur in dem konkret entschiedenen Sachverhalt zu berücksichtigen und nicht auf vergleichbare Fälle zu übertragen. Da rund 80% der Urteile des BFH für den Steuerzahler günstig sind, führen die Nichtanwendungserlasse dazu, dass eine für die Bürgerinnen und Bürger günstige Rechtsprechung nicht zur Anwendung kommt. Da der Steuerzahler nicht wissen kann, ob die Finanzverwaltung zu seinen Ungunsten von der höchstrichterlichen Rechtsprechung abgewichen ist, ist der Zugang zu den sog. Nichtanwendungserlassen naturgemäß von immenser Bedeutung. Schließlich könnte er in Kenntnis des Sachverhalts seine Rechtsposition mit großer Wahrscheinlichkeit erfolgreich durchsetzen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Finanzverwaltung den Zugang zu den Nichtanwendungserlassen möglichst verhindern will.
Im vorliegenden Fall hatte ein Antragsteller beim Ministerium der Finanzen Zugang zu verschiedenen Nichtanwendungserlassen nach dem IZG LSA begehrt. Nach Ablehnung seines Antrags hatte er sich zunächst an den Petitionsausschuss gewandt, der ihn an mich weiter verwiesen hatte.
Auf meine Bitte um Stellungnahme hin hat mit das Ministerium gleich eine Vielzahl von Ausschluss- oder Hinderungsgründen genannt.
Eine Bescheidung des Antrags sei nicht erforderlich gewesen, da kein Antrag nach dem IZG LSA, sondern eine Sachaufsichtsbeschwerde vorgelegen habe. Diese stelle rechtlich eine Petition i. S. d. Art. 17 GG dar, deren Beantwortung im Ermessen der Behörde gestanden habe. Auch habe das Ministerium für die begehrten Informationen keine rechtliche Verfügungsbefugnis besessen, da es sich bei den Nichtanwendungserlassen um Verwaltungsvorschriften gehandelt habe, die die Oberfinanzdirektion erlassen habe. Es bestehe auch deshalb kein Informationszugangsanspruch, weil die Nichtanwendungserlasse als „Verschlusssache – nur für den Dienstgebrauch“ eingestuft worden seien. Schließlich nehme § 3 Abs. 1 Nr. 11 IZG LSA die Finanzbehörden generell vom Anwendungsbereich des IZG LSA aus.
Die Stellungnahme einer immerhin obersten Landesbehörde, die mit einer Vielzahl auch ersichtlich unzutreffender Erwägungen gespickt ist, ist natürlich wenig hilfreich.
Liegt ein Antrag nach dem IZG LSA vor, muss die um Informationszugang ersuchte Behörde über diesen unter Einhaltung der gesetzlichen Informationszugangs- bzw. Bescheidungsfristen entscheiden, vgl. §§ 7 Abs. 2, 9 Abs. 1 IZG LSA. Beruft sich eine Behörde auf die nach Ihrer Auffassung fehlende rechtliche Verfügungsbefugnis, stellt dies rechtlich nichts anderes als die Ablehnung des Informationszugangsantrags dar. Eine Ablehnung des Informationszugangsantrags ist nach § 9 Abs. 1 IZG LSA fristgemäß und schriftlich zu bescheiden. Eine Behandlung des Antrags als Sachaufsichtsbeschwerde scheidet damit ersichtlich aus.
Auch das Argument der fehlenden Verfügungsbefugnis greift ersichtlich nicht. Die rechtliche Verfügungsbefugnis kann sich zwar aus der Urheberschaft eines Dokuments ergeben. Die Urheberschaft, auf die das Ministerium abstellt, ist jedoch kein alleiniges Kriterium für die rechtliche Verfügungsbefugnis. Verwendet nämlich eine Behörde Informationen einer anderen Behörde für eigene Zwecke, ist auch sie grundsätzlich verfügungsbefugt (vgl. BVerwG, Urteil vom 3. November 2011, NVwZ 2012, 251 f.). Liegt eine Information bei mehreren informationspflichtigen Stellen vor, sind grundsätzlich beide Stellen zur Verfügung berechtigt (VG Berlin, Urteil vom 30. Mai 2013, Az.: VG 2 K 57.12).
Auch der Hinweis auf die Einstufung der Erlasse als Verschlusssachen ist nicht tragfähig. Nach § 3 Abs. 1 Nr. 4 IZG LSA besteht der Anspruch auf Informationszugang zwar nicht, wenn die Information einer durch Rechtsvorschrift oder durch die Verschlusssachenanweisung für das Land Sachsen-Anhalt geregelten Geheimhaltungs- oder Vertraulichkeitspflicht unterliegt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum korrespondierenden Bundesrecht reicht aber die bloße Einstufung einer Information als Verschlusssache für die Ablehnung eines Informationszugangsantrags nicht aus. Die nur formale Einstufung als Verschlusssache ist nämlich losgelöst von den eventuell hinter ihr stehenden materiellen Geheimhaltungsbedürfnissen nicht schutzwürdig. Daher kommt es auf die materielle Richtigkeit der Einstufung als Verschlusssache an (BVerwG, Urteil vom 29. Oktober 2009, NVwZ 2010, 326 f.). Diese hatte das Ministerium nicht dargelegt.
Es bleibt somit der Ausschlussgrund des § 3 Abs. 1 Nr. 11 IZG LSA. Die Vorschrift nimmt Finanzbehörden i. S. d. § 2 des Finanzverwaltungsgesetzes, wie das Ministerium es vertritt, jedoch nicht generell vom Anwendungsbereich des Gesetzes aus. Die Vorschrift greift nur, soweit diese in Verfahren in Steuersachen tätig werden. Strittig war, ob der Ausschluss nur für laufende Steuerverfahren oder generell für Steuersachen gelten sollte. Da der Gesetzeswortlaut nicht generell von Steuersachen, sondern von einem „tätig werden“ spricht und damit ein aktives Handeln verlangt, liegt es eigentlich nahe, dass die Bereichsausnahme nur für laufende und nicht auch für abgeschlossene Steuerverfahren gelten soll. Auch findet sich in der Gesetzesbegründung ein Hinweis, dass mit dem Ausschlussgrund des § 3 Abs. 1 Nr. 11 IZG LSA das Akteneinsichtsrecht des Steuerpflichtigen im konkreten steuerlichen Verwaltungsverfahren ausgeschlossen werden sollte (vgl. LT-Drs. 5/748, S. 16 und S. 23). Der Wortlaut der Norm ist insofern nicht eindeutig, die Gesetzesbegründung lässt m. E. beide Auslegungen zu. Da nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes Ausschlussgründe generell eng auszulegen sind (BVerwG, Beschluss vom 9. November 2010, Az.: 7 B 43/10; OVG NRW, Urteil vom 19. März 2013, Az.: 8 A 1172/11) und dies erst recht für die hier vorliegende Bereichsausnahme gelten müsste, hätte hier mit guten Gründen die Auffassung vertreten werden können, dass § 3 Abs. 1 Nr. 11 IZG LSA nur den Zugang zu Informationen für laufende Steuerverfahren ausschließt.
Diese von mir für vorzugswürdig gehaltene Auffassung hat auch das Verwaltungsgericht Halle für den Anspruch eines Insolvenzverwalters auf Zugang zu Steuerunterlagen vertreten (VG Halle, Urteil vom 11. September 2013, Az.: 1 A 197/12). Demgegenüber vertritt das OVG Sachsen-Anhalt unter Berufung auf den objektivierten Willen des Gesetzgebers die Auffassung, dass es sich bei § 3 Abs. 1 Nr. 11 IZG LSA um eine Bereichsausnahme handele, die Finanzbehörden generell in Steuersachen vom Anwendungsbereich ausnehme (OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 23. April 2014, Az.: 3 L 319/13). Durch die Regelung habe klargestellt werden sollen, dass nicht nur die Auskunftsbegehren Dritter, sondern auch die des Steuerpflichtigen selbst ausgenommen werden sollten.
Die Rechtsprechung des OVG Sachsen-Anhalt ist schon deshalb angreifbar, weil nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts der Steuerpflichtige nach den jeweiligen Datenschutzgesetzen der Länder sehr wohl einen Auskunftsanspruch im Steuerverfahren besitzt. Wenn man auf den objektivierten Willen des Gesetzgebers bei der Auslegung des Gesetzeswortlauts abstellt, stellt sich die Frage, ob der Gesetzgeber in Kenntnis der Rechtsprechung der bei Erlass des IZG LSA noch nicht existierenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts tatsächlich die vom Gericht erkannte einschränkende Auffassung vertreten hätte. Ich halte daher eine Überprüfung der Bereichsausnahme des § 3 Abs. 1 Nr. 11 IZG LSA für dringend erforderlich.
Mit Blick auf die hier noch nicht informationszugangsfreundliche Rechtsprechung des OVG Sachsen-Anhalt dürfte daher ein Anspruch auf Informationszugang nach dem IZG LSA nicht bestehen. Dennoch ist der Fall noch nicht abgeschlossen. Nach einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, die in der Praxis regelmäßig übersehen wird, ist nämlich die Verwaltung – unabhängig vom IZG LSA – verpflichtet, Verwaltungsvorschriften mit unmittelbarer Auswirkung gegenüber Dritten bekannt zu machen (BVerwG, Urteil vom 25. November 2004, Az.: 5 CN 2/03). Dass Nichtanwendungserlasse unmittelbare Auswirkungen gegenüber Dritten haben können, erscheint zumindest nicht unwahrscheinlich.
Die Stellungnahme des Ministeriums für Finanzen steht seit Ende 2013 aus. Mehrere Nachfragen sind bisher ergebnislos geblieben.