V. Tätigkeitsbericht des Landesbeauftragten für die Informationsfreiheit Sachsen-Anhalt vom 1. Oktober 2016 bis 30. September 2018
3.5 Europäischer Gerichtshof: Verfallsdatum für Berufsgeheimnisse
Wenig bekannt ist, dass der Europäische Gerichtshof (EuGH) ein Verfallsdatum für Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse eingeführt hat (EuGH, Urteil vom 19. Juni 2018, Az.: C-15/16).
Nachdem ein Anleger betrügerischen Machenschaften einer Wertpapierhandelsbank zum Opfer gefallen war, beantragte er bei der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) – gestützt auf § 1 Abs. 1 IFG des Bundes – Einsicht in bestimmte, die Bank betreffende Informationen.
Die BaFin lehnte den Antrag ab und argumentierte, die gewünschten Informationen seien vertraulich und fielen unter das Berufsgeheimnis i. S. d. Art. 54 Abs. 1 der EU-Richtlinie 2004/39/EG über Märkte für Finanzinstrumente. Nach dieser Vorschrift unterliegen die Behörden und ihre Wirtschaftsprüfer in ihrer Überwachungstätigkeit dem Berufsgeheimnis. Sie dürfen deshalb vertrauliche Informationen, die sie durch ihre Arbeit erhalten, an keine Person oder Behörde weitergeben, sofern sich daraus die Identität des Unternehmens ermitteln ließe. Das Berufsgeheimnis wiederum unterfällt dem Ausschlussgrund des § 3 Nr. 4 IFG in Verbindung mit § 9 Abs. 1 Kreditwesengesetz.
Das Bundesverwaltungsgericht, das den Fall zu entscheiden hatte, setzte die Verhandlung aus und legte dem EuGH Fragen zur Auslegung des Berufsgeheimnisses i. S. d. Art. 54 der o. g. Richtlinie vor.
Der EuGH hat nun den Begriff des Berufsgeheimnisses konkretisiert und entschieden, dass
1. weder alle Informationen, die das überwachte Unternehmen betreffen und von ihm an die zuständige Behörde übermittelt wurden, noch alle in der Überwachungsakte enthaltenen Äußerungen dieser Behörde, einschließlich ihrer Korrespondenz mit anderen Stellen, ohne weitere Voraussetzungen vertrauliche Informationen darstellen, die infolgedessen von der in dieser Vorschrift aufgestellten Pflicht zur Wahrung des Berufsgeheimnisses gedeckt sind.
Dagegen sind die den Behörden vorliegenden Informationen als vertraulich einzustufen, die erstens nicht öffentlich zugänglich sind und bei deren Weitergabe zweitens die Gefahr einer Beeinträchtigung der Interessen der natürlichen oder juristischen Person, die sie geliefert hat, oder der Interessen Dritter oder des ordnungsgemäßen Funktionierens des vom Unionsgesetzgeber durch den Erlass der Richtlinie 2004/39/EG geschaffenen Systems zur Überwachung der Tätigkeit von Wertpapierfirmen bestünde.
2. Art. 54 Abs. 1 der Richtlinie 2004/39 dahin auszulegen ist, dass die Vertraulichkeit von Informationen, die das überwachte Unternehmen betreffen und den von den Mitgliedstaaten zur Erfüllung der in der Richtlinie vorgesehenen Aufgaben benannten Behörden übermittelt wurden, zu dem Zeitpunkt zu beurteilen ist, zu dem diese Behörden ihre Prüfung im Rahmen der Entscheidung über den Antrag auf Zugang zu den betreffenden Informationen vornehmen müssen, unabhängig davon, wie sie bei ihrer Übermittlung an diese Behörden einzustufen waren.
3. Art. 54 Abs. 1 der Richtlinie 2004/39 dahin auszulegen ist, dass die den Behörden, die von den Mitgliedstaaten zur Erfüllung der in der Richtlinie vorgesehenen Aufgaben benannt wurden, vorliegenden Informationen, die möglicherweise Geschäftsgeheimnisse waren, aber mindestens fünf Jahre alt sind, aufgrund des Zeitablaufs grundsätzlich als nicht mehr aktuell und deshalb als nicht mehr vertraulich anzusehen sind. Es sei denn, die Partei, die sich auf die Vertraulichkeit beruft, weist ausnahmsweise nach, dass die Informationen trotz ihres Alters immer noch wesentliche Bestandteile ihrer eigenen wirtschaftlichen Stellung oder der von betroffenen Dritten sind. Diese Erwägungen gelten nicht für die diesen Behörden vorliegenden Informationen, deren Vertraulichkeit aus anderen Gründen als ihrer Bedeutung für die wirtschaftliche Stellung der fraglichen Unternehmen gerechtfertigt sein könnte.
Das Bundesverwaltungsgericht hat im April 2019 entschieden, dass die der BaFin übermittelten Geschäftsgeheimnisse der beaufsichtigten Unternehmen nach Ablauf von fünf Jahren typischerweise nicht mehr aktuell sind und daher nicht mehr dem Berufsgeheimnis unterliegen (BVerwG, Urteil vom 10. April 2019, Az.: 7 C 22/18). Da in der Sache kein Grund für eine unterschiedliche Behandlung von Berufs- sowie von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen zu erkennen ist, spricht vieles dafür, dass die Rechtsprechung des EuGH und des Bundesverwaltungsgerichts auf das Merkmal des Betriebs- und Geschäftsgeheimnisses übertragen werden können. Diese hätten zukünftig ein Verfallsdatum, mit dessen Erreichen im Normalfall das berechtigte Interesse an der Geheimhaltung entfallen würde (vgl. Nr. 4.4).